istanbul verstehen
vielen reisenden geht es nach ihrer rückkehr aus dieser stadt ähnlich: diese stadt ist schwer zu begreifen. es verblüfft, macht nachdenklich. und dann kommt eine unerklärliche bewunderung für etwas unverständliches auf. unzählige betrachter dieser stadt versuchten das zu beschreiben, was sie sahen - so zum beispiel geoffroi de villehardouin, als heerführer des kreuzzuges 1204 n. chr. aber auch in unserer zeit, versucht man in bild und ton (siehe video turkish airlines) das fest zu halten, was eigentlich nur erlebbar ist.
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"diejenigen, die konstantinopel
noch nicht kannten, starrten ganz verwundert auf die stadt - nie hätten sie sich vorstellen können, dass es auf der welt einen solchen ort gibt." geoffroi de villehardouin heerführer, vierter kreuzzug, 1204 n. chr. |
istanbul - flow through the city of tales
turkish airlines |
orhan veli kanik (1914-1950)
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doch jeder beschreibt dieses gefühl anders, oder findet gar keine worte - weil man es schlicht nicht versteht. unzählige dichter, schriftsteller und lieder versuchen diese stadt zu beschreiben. «ich höre istanbul, meine augen verschlossen» (orhan veli kanik, ist das berühmteste gedicht, das die ganze türkei auswendig kennt. die kritik schreibt dazu, dass dieses gedicht den geist der stadt deshalb so erfolgreich festhält, weil es eine "naive nüchternheit und frieden enthält, dessen herkunft ungewiss ist, ja sogar ganz offensichtlich ist, dass es nur ein traum sein kann, der aber stets kurz davor steht, zerstört zu werden". diese analyse des gedichtes beschreibt istanbul bis zur perfektion.
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"ich höre istanbul, meine augen verschlossen" (orhan veli kanik)
ich höre istanbul, meine augen verschlossen, vorerst ein leichter wind, die blätter in leichtem tanz, weit, ganz weit entfernt, das ewige klappern des wasserträgers, ich höre istanbul, meine augen verschlossen
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ich höre istanbul, meine augen verschlossen, während die vögel vorbei ziehen, das geschrei wie ein chor, der fischernetz-wurf in der delta, ein frauenfuss tupft das wasser, ich höre istanbul, meine augen verschlossen
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ich höre istanbul, meine augen verschlossen, der kühle grosse basar, menschenmassen bei mahmutpasa, taubenherden im hofe aller moscheen, hammerschläge aus den schiffwerften, schweissgeruch im wunderschönen frühlingswind, ich höre istanbul, meine augen verschlossen
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ich höre istanbul, meine augen verschlossen, in meinem kopf meine betrunkenheit der letzten nacht, eine bosphorus-villa in gedimmtem licht, im nachhall des bereits vergangenen südwestwindes höre ich istanbul, meine augen verschlossen
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ich höre istanbul, meine augen verschlossen, eine nutte läuft über den bürgersteig, nachrufe, lieder, gesänge, fluchwörter, ihr fällt etwas auf den boden, es muss eine rose sein, ich höre istanbul, meine augen verschlossen
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ich höre istanbul, meine augen verschlossen, ein vogel flattern um sein leben an deinem rock, ist dein stirn kalt oder warm, ich weiss es; sind deine lippen trocken oder feucht, ich weiss es; ein weisser mond geht hinter den haselnüssen auf, ich spühre es an deinem herzschlag, ich höre istanbul
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weniger poetisch, dafür umso nüchterner und neuer scheint diese beschreibung den geist der stadt hervorragend festzuhalten: « (…) heute überholen lumpensammler in ihren von pferden gezogenen karren ferraris, die im verkehrschaos der city feststecken. supertanker, die öl aus russland befördern, und gigantische frachtschiffe, die luxusgüter vom marmarameer zum schwarzen meer transportieren, bedrohen die fischer vor ort. züge und dröhnende busse, übervoll beladen mit passagieren, bringen täglich zehn millionen istanbuler ins zentrum und wieder hinaus - noch mehr sind es im grossraum istanbuls, einer ausufernden region (…) und einer bevölkerungszahl von rund sechszehn millionen. die moderne stadt erstreckt sich über 160 kilometer im durchmesser. istanbul ist tatsächlich eine phantastische stadt, eine stadt der seele, doch geboren ist sie aus der erde, auf der sie steht: sie ist verankert. istanbul ist die langlebigste politische einheit in europa. es ist ein ballungsraum, der im laufe der letzten achttausend jahre ein mosaik von siedlungen und mikrostädten versammelt hat, aus dem sich das gewaltige, chaotische konglomerat der modernen metropole herausbildete. viele stadtbezirke waren früher eigenständige städtchen. heute sind sie wie ein tropfen quecksilber mit dem stadtbereich istanbul verschmolzen. bei ihrer jüngsten bestandsaufnahme haben archäologen unter dem antiken hippodrom, prächalkolothische überreste gefunden – sie reichen in der zeit weiter zurück als die 42 schichten menschlicher besiedlung, die man an der ausgrabungsstätte troja gefunden hat. phönizier, griechen, römer, genueser, venezianer, juden, araber, wikinger, aserbaidschaner, armenier, türken – alle haben ein stück dieses bodens zwischen ost und west als ihre heimat empfunden. wie fühlen uns hier am mittelpunkt des globus, denn wir sind tatsächlich mit vielen welten verbunden.» (bettany hughes. dozentin an der university of cambridge
“istanbul, die biographie einer weltstadt” (2017)) |
der berühmteste reiseführer und stadtkenner istanbuls saffet emre tonguc empfiehlt deshalb allen reisenden sich immer die frage zu stellen: «was ist istanbul in diesem augenblick?» - denn die antwort ist oft: «sie ist alles gleichzeitig – arm & reich, jung & alt, religiös & atheistisch, westlich & östlich, frei & verboten, beengend & befreiend, frisch & abgestanden, depressiv & erfreuend».
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